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Lasst die Götter wieder frei!

Oder: Warum ich an Ikarus mehr lerne als an Lady Di`s Tod

Was wäre das nun für eine Feier geworden, wäre uns nicht dieser dumme Krieg dazwischen gekommen? So bleibt uns doch glatt die Salzstange in der Kehle stecken und der Champagner wird auch nicht schmecken. In dieser unangenehmen Situation der Ratlosigkeit wird uns wenigstens ein Silvesterritual erspart bleiben: Die von der Vernunft verordnete Illusion im nächsten Jahr, bitte AB SOFORT, alles anders machen zu können. Es wird also alles beim Alten bleiben. Und trotzdem ist es einfach ein Fakt, dass der Jahrtausendwechsel, dem bereits jetzt große Aufmerksamkeit zu teil wird, erst einmal eine positiv zu bewertende Sensibilität gegenüber dem Phänomen Zeit und des weiteren gegenüber dem geschichtlichen Verlauf als solchem hervorruft. In diesem Sinne ist es vielleicht hilfreicher, den Blick fragend auf das zu richten, was ist.

Der Blick des Künstlers ist natürlich nicht der eines Wissenschaftlers, obgleich er für sich ebenso beansprucht zu einem Wissen, zu einer Erkenntnis zu gelangen. Mit seinem riechenden, tastenden, hörenden und schmeckenden Auge sieht der Künstler mit einem Totalitätsanspruch, den die Wissenschaft mit ihren Einzeldisziplinen längst aufgegeben hat. Es ist ein zuvorderst wertfreies allumfassendes Umherschweifen des Blickes, ein assoziatives Schauen, in dessen Raum sich ein Horizont eröffnet, der es erlaubt, die Dinge anhand Ihrer Querbezüge wieder zusammenzufügen[1].

Diese “Dinge” formieren sich in diesem Artikel als Behauptungen, denen man sich anschließen kann oder eben nicht. Spräche man doch von einer Wissenschaftlichkeit, so müsste diese als eine emotionale Wissenschaft bezeichnet werden, die sich aus einer emotionalen Vernunft, einer emotionalen Intelligenz speist. Ihr Fundament ist die Intuition. Es ist der Grund, auf dem der Intellektuelle sich, trotz des Spezialistentums, von allen Dingen des Alltäglichen eine Meinung zu machen erlaubt.

Doch das, was meines Erachtens für die Diskursfähigkeit unserer Gesellschaft von großer Wichtigkeit ist, ist für den Künstler ein Produktionsprinzip. Jedes gute neue Werk ist ein Wagnis, welches zuerst einmal spekulativer Natur ist, dessen Gestalt sich erst im historischen Rückblick dem Künstler bez. dem Rezipienten als sinnvoll oder sinnlos offenbart. Der Prozess der künstlerischen Gestaltung lässt sich hier unter den Begriffen “spekulieren, studieren, überlegen”[2] subsumieren. Mit seinen gewagten kombinatorischen Übungen bewegt der Künstler sich grundsätzlich an der Front der Innovation. Ob jedoch die Kunst inzwischen die für die gesellschaftliche Entwicklung relevanten Veränderungspotentiale an eine andere Berufsgruppe abgetreten hat, ist in diesem Artikel noch zu hinterfragen.

Kombinatorisch-spekulative Übung eines Dichters:

 Mut

 Fliegt der Schnee mir ins Gesicht,

Schüttl' ich ihn herunter.

Wenn mein Herz im Busen spricht,

Sing ich hell und munter.

Höre nicht, was es mir sagt,

Habe keine Ohren;

Fühle nicht, was es mir klagt,

Klagen ist für Toren.

Lustig in die Welt hinein

Gegen Wind und Wetter!

Will kein Gott auf Erden sein,

Sind wir selber Götter!

In diesem Gedicht aus dem Gedicht-Zyklus "Die Winterreise" von Wilhelm Müller (1794-1827) wird aus historischer Sicht nun eines klar: Hier sieht ein Dichter die ganze gesellschaftliche Entwicklung der nächsten 250 Jahre voraus. Durch das Mittel der Metapher, bannt er den gegenwärtigen Zeitgeist und deutet mit seherischer Gabe seine Zeichen. dass dieser "Mut" von einer Machart ist , der eher einer Selbstprogrammierung gleicht, wird besonders durch die Vertonung Franz Schuberts deutlich. Das Lied ist bei Schubert mit "ziemlich geschwind, kräftig" überschrieben und es wird der Eindruck erweckt, als wollte da jemand wider besseren Wissens einen Selbstentwurf wagen, den er nur durch die Beschleunigung seiner Gangart sich selbst gegenüber glaubhaft machen kann. Dieser Mut, der sich philosophisch durch den Positivismus ausdrückte und sich im Existentialismus in der Trotzhaltung des "lächelnden Sysiphos" seine mythologische Konfiguration suchte, scheint heute vor einer neuen Zerreißprobe zu stehen. Zivilisatorisch hat uns seit den jüngsten Eskapaden des homo sapiens schon längst der Mut verlassen.

Nietzsches "Gott ist tot" war also nur noch die schriftliche Bestätigung der Einsamkeit, die sich seit der Aufklärung kontinuierlich in die Menschen gefressen hatte. Selbst die technischen Errungenschaften der letzten 200 Jahre konnten uns über diesen existentiell - niederschmetternden Befund nicht hinweg trösten.

Der im biologischen Erbe des Menschen angelegte Hang zur Formalisierung[3] sorgte jedoch alsbald für Ersatz. Es ist nicht verwunderlich, dass gerade im Moment der größten Gottverlassenheit der Mythos der Nation seine Geburtsstunde hatte. Die Nation war zwar eine in der Welt zu lokalisierende Ordnung, doch nichtsdestotrotz ein Abstraktum, welches - gleich der vorherigen kosmischen Einordnung - durch gemeinsame Imagination ein wiederum geeintes Publikum schaffte. Worauf eine solche Überlegung hinauswill ist die Spekulation, dass die Götter bzw. das mythische Denken als solches nie aufgehört hat zu existieren. Zwar machte sich die Denk-Fraktion des Vernunftdogmas vor, die Affinität zum Mythos sei mit der Wissenschaftlichkeit nun ausgestanden, doch will ich an dieser Stelle anhand einiger Beispiele des täglichen Lebens versuchen aufzuzeigen, wie präsent mythisches Denken in der Rezeption alltäglicher Ereignisse ist. Dabei sei hier nebenbei bemerkt, dass die Funktion des Mythos für mich bereits an dem Punkt einsetzt , an dem der Mensch sein Tun im Raum-Zeit-Kontinuum in einen sinnstiftenden Zusammenhang stellt [4]. Sei es die Familie oder die Firma, das Mythische ist grundsätzlich allem potentiell inhärent. In diesem erweitert zu nennenden Mythosbegriff fängt der Mythos beim Kuscheltier an, und hört da auf, wo er die Gestalt einer Legende oder eines Gottes annimmt[5] . Insofern wäre nur unter verschiedenen Sinnsphären zu unterscheiden in denen sich das Mythische zeigt. Ist es ein politischer oder ein übergeschichtlicher Mythos? Legitimiert er mein weltliches Handeln oder kommuniziert er mit dem Unaussprechlichen, mit dem unerklärlichen Faszinosum meines Daseins?

Heldenmythos von Heute

Der Rempler von Michael Schumacher ist, deutet man ihn mythologisch, mit der Tat des tumben noch nicht sozialisierten Toren Parcevals zu vergleichen, der in seiner jugendlichen Unreflektiertheit und Unwissenheit im Gralsgebiet einen Schwan erlegt. Im Parceval-Mythos wird in dieser Episode in überzeitlich - exemplarischer Weise ein menschlicher Bewusstwerdungsvorgang dargestellt. Da man im Mythos den ganzen Werdegang vor Augen hat, stellt sich gar nicht die Frage des eigenen moralischen Standpunktes gegenüber einer solchen Tat. Der Held M. Schumacher muß hingegen erst im weiteren Verlauf seines Lebens beweisen, ob er durch diese Missetat nun reift. Als Anhänger dieses Halbgottes ist man, sollte man ihn nicht doch aus dem persönlichen Heldenolymp verstoßen, gezwungen, ihn moralisch zu rechtfertigen und sich somit selbst mit dieser Tat zu identifizieren. Gesteht man dem Mythos die Fähigkeit zu, den Rezipienten "in Ordnung" zu bringen, weil man durch die Anteilnahme am Selben in eine archetypische Form des Verhaltens eingeordnet wird, so stellt sich zwangsläufig die Frage, wie es sich im heutigen Heldenmythos, der ja eher als eine Person des öffentlichen Lebens, also im Raum-Zeit-Kontinuum personifiziert zu sein scheint, mit den Archetypen verhält. Veranschaulichen lässt sich dies auch am "Heldentod" der Prinzessin von Wales.

Zweifelsohne ging durch den Tod von Lady Di ein Ruck durch die Welt. Abermillionen von Menschen ließen ihren Tränen freien Lauf. Der Zustand der Todesvergessenheit, in der der größte Teil der Menschheit sich befindet, war mit einem Schlag aufgehoben. Aus sicherer Entfernung vor dem Bildschirm, konnte man den Tod, der ja - begegnet man ihm bei den nächsten Angehörigen - ein eher unvorstellbares Phänomen darstellt und irgendwie sublimiert wird, aus nächster Nähe "zelebrieren". Bei Ikarus war es die Sonne, bei Diana der Betonpfeiler, doch die Ursache, die menschliche Hybris war die gleiche.

Was der Ikarus-Mythos abschließend und kathartisch aufzeigt, bleibt im Falle Dianas Todes eine never-ending story: Das Spekulieren um den Tod geht weiter. War es das Böse in Gestalt einer wildgewordenen Schar von Paparazzis, oder eines trunksüchtigen Lakaien, oder war es gar ein Mordkomplott, weil die "Fee des Guten " zu viel wusste. Man merkt, die Sinne hängen in der Luft, und kommen gar nicht dazu, sich mit einer archetypischen Form des Verhaltens zu identifizieren.

Die effektivste Weltmythenschablonenfabrik ist die BILD-Zeitung. Die Bildzeitung kennt nur vordergründig eine Moral. Bei der Lektüre wird man mit seiner eigenen Schatten- und Lichtgestalt konfrontiert, nimmt man schließlich aus der Position eines Voyeurs Anteil an der Opfer- sowie der Täterrolle. Doch zeitigen auch hier die archetypischen Schablonen keine kathartische Wirkung, sondern versetzen einen eher in eine konstante Unruhe. Denn: Hubert K. läuft sogar noch frei herum!

Das Böse ist also bei der BILD-Zeitung immer in der Welt zu lokalisieren, und hat infolgedessen auch immer einen Zielpunkt für den immer potentiell existenten Hass. Werden sogar ganze Minderheiten diskriminiert wird die Zeitung zu einem folgenschweren Instrument. Desungeachtet wage ich hier die Frage zu stellen, ob ohne die Bildzeitung nicht alles viel schlimmer wäre bzw. ob sie nicht im leeren Götterhimmel so etwas wie einen schlechten Mythenersatz leistet? Diese Frage trifft ohne Zweifel einen neuralgischen Punkt, situiert man sich selbst verständlicherweise auf das rettende Ufer der Immunität. Doch sollte man sich einmal ganz unvoreingenommen den Bemerkung Ernst Jüngers hingeben, der über die Schlacht von Alta Plana vom 30. Juni 1934 schreibt: " Wir sind zuweilen wie Kinder in jene frühe Welt, in welcher der Schrecken allmächtig ist, zurückgefallen". Begründung: " Wir kannten noch nicht die volle Herrschaft, die dem Menschen verliehen war". Der Philosoph Hans Blumenberg[6] schreibt zu diesem Zitat, "dass alles das, was der Mensch ..... durch Erkenntnis an Herrschaft über die Wirklichkeit gewonnen hat, ihm nie die Gefährdung, ja die Sehnsucht nicht nehmen konnte, auf die Stufe seiner Ohnmacht, gleichsam in die archaische Resignation zurückzusinken". Will man dieser Ansicht Glauben schenken, und ich tue dies, so fällt es einem angesichts dieser Sachlage schwer, sich leichtfertig als bereits uneinholbarer Nutznießer einer "Hochkultur" zu betrachten.

Doch zurück zur These: In der Art und Weise wie in der BILD-Zeitung Ereignisse zu archaischen Naturkräften transformiert werden, denen man ausgeliefert zu sein scheint, wird "dem Heimkehrwunsch in die archaische Unverantwortlichkeit , der schlechthin innigen Preisgabe an Mächte denen nicht widersprochen werden kann" Rechnung getragen. Natürlich ertrage ich es selbst nicht, eine solch skandalöse Behauptung im Raume stehen zulassen ohne sie zu differenzieren: die Antizipation der Schattenseite der menschlichen Seele geschieht hier nur auf der Grundlage der Profitmaximierung und nicht mit einem Telos der Aufklärung. Der stetigen Präsenz der Gefahr einer kollektiven Regression werden wir nur dadurch gerecht, wenn wir wieder lernen, die "Gattung" des überhistorischen Mythos' zu kultivieren. Doch dazu an späterer Stelle mehr.

Der Niedergang der freischwebenden[7] und selbst der dogmatischen Mythen, die Niederkunft der Götter auf die Welt ist zumindest in der westlichen Welt fast vollendet. Während Jesus oder Maria sich bereits als goldene Kälber auf Unterwäsche wiederfinden und somit ein Zeichen unter anderen werden, erfahren hingegen andere Zeichen eine wahre Adelung in Ihrer "Bedeutung". Zeichen wie Benetton, McDonald`s und Coca-Cola z.B. beginnen den Gedanken der Universalität weit erfolgreicher in der Welt zu verbreiten als jeder humanistische Diskurs. An solch einem Phänomen ist überhaupt eine entscheidende Trendwende abzulesen. Zeichen bzw. Botschafter unserer Kultur sind in zunehmendem Maße eher in marktwirtschaftlichen Produkten zu finden, als in künstlerischen Werken. Die Produkte des Kapitalismus, ob man nun will oder nicht, verstärken wesentlich den Transformationsdruck auf traditionelle Gesellschaften. Die liebliche Süße der Coca-Cola ist ein zweifellos entpolitisierender Faktor im immer wieder beschworenen Kampf der "unverrückbaren" Kulturprofile.

In Bezug auf den Mythos der Nation hieße das, dass er unter dem Druck des imperialistischen Charakters der Zeichen auch nunmehr zu einer irrelevanten Größe wird ( Anm. des Autors: solche verallgemeinernden Diagnosen lassen sich nur unter Nichtberücksichtigung regionaler Ausnahmen aufstellen). Dieses Tatbestandes konnte man während der Fußballmeisterschaft in Paris gewahr werden, bei der alle Welt voll Angst dem Spiel zwischen den Erzrivalen Amerika und Iran entgegenfieberte. Entgegen aller Befürchtungen löste sich das Spiel trotz der Niederlage des Irans jedoch in das größte Verbrüderungs- und Verschwesterungsfest aus. Im allgemeinen war während der ganzen Weltmeisterschaft die Fähigkeit der Fans zu beobachten ihre Identifikation mit der Nation in einer ironisch spielerisch-distanzierten Weise zu artikulieren. Es nährt sich also die Hoffnung, dass das Individuum in einem solchen gemeinsam verfügbaren Pool von Zeichen und Symbolen ein neues spielerisches Selbstbewusstsein erlangt. Es lässt sich also beobachten, dass auf der einen Seite der Kapitalismus signifikante Warenmythen zu entwickeln weiß, die in Ihrer Fähigkeit in die Gesellschaft hinein zu wirken, Tabus zu brechen, nicht zu unterschätzen sind. Durch das Bemühen aller Markenprodukte eine herausstechende Imagesignifikanz zu entwickeln wird sich jedoch dialektisch zu der vorhergenannten Beobachtung eine Zeichenmüdigkeit herausbilden. In diesem Überangebot von Bedeutung, in diesem Überangebot von Waren entsteht, vom Kapitalismus nicht gewollt, der absolute Zeichencrash, in dessen Ereignis sich das Individuum bestenfalls von der Versklavung des Zeichendiktats befreit. Offenbaren wird sich in einem solchen Crash auch der Umstand, das uns die Objekte eher zu Objekten haben werden lassen, d.h. mit Peirce gesprochen, dass nicht nur wir die Objekte mit Bedeutung belegen, sondern dass in der Wechselwirkung uns das Objekt ebenso meint, uns determiniert. In dieser Talsohle des Sinns scheint mir jedoch eine Hoffnung zu liegen.

Ich fasse noch einmal zusammen: Die Götter sind auf die Erde gekommen. Sie erscheinen uns als Libido-Fetische in Form von Stars oder Waren. Sie können aber, da sie Sterbliche und somit nicht überhistorisch sind, nicht ansatzweise das leisten, was der freischwebende Mythos zu leisten vermag. An dieser Stelle möchte ich eine Briefstelle Thomas Manns zitieren, in der er an Udo Rukser schreibt: " die Verbindung von Mythos und Psychologie habe ich in dem Joseph -Werk in dem Geiste praktiziert, dass ich gewissermaßen den Mythos seinen Missbrauchern, den Faschisten, aus den Händen nahm und ins Humane wendete."

Auch wenn die Coca-Cola die Menschheit in ihrem Primärbedürfnis des Trinkens universell verknüpft, wird sie letztendlich nicht Träger eines weiterreichenden Humanismus sein können. Da es uns auch in nächster Zeit nicht vergönnt sein wird auf Außerirdische zu stoßen, deren Erscheinen die Menschheit wohl mit einem Schlag miteinander aussöhnen würde, ist es allein an uns, den humanistischen Gedanken in der Weise fortzuführen, dass er uns in einen größeren Sinnzusammenhang zu stellen vermag.

Daher bin ich der Meinung, dass die Kunst sich des Mythos` als einem Botschafter eines "aufgeklärten" Aufklärungsgedankens annehmen sollte. Eines Aufklärungsgedankens, der sich mit dem Mythos als solchem versöhnt hat. Letztendlich wird sich daran zeigen, ob die Kunst überhaupt noch einmal zu einer gesellschaftlich relevanten Kraft wird. Nur wenn die Kunst den Mut hat, sich visionär, mit paracelsischer Schöpferkraft[8] in die Zeichenproduktion zu integrieren, kann sie an der Gestaltung von Lösungen für die brennenden Probleme mitwirken. Als das Verbindungsglied zwischen der Faktizität menschlichen Daseins und seines numinosen Ursprungs ist sie diejenige, die die Heimkehr zur "mythischen Realität"[9] vorbereiten kann.

Die Kunst wird dabei keine neue Religion stiften, sondern sollte Mythen gestalten, in denen das Individuum die Möglichkeit hat, sich als Einzelwesen in undogmatischer Weise kosmologisch einzuordnen. Im Folgenden will ich Ihnen nun ein Projekt vorstellen, welches versucht, den oben genannten Kriterien Genüge zu leisten. Für das Jahr 2000 habe ich eine mythologische Skulptur entworfen, die den Parceval-Mythos neu interpretiert. Dieser Mythos ist nicht, wie fälschlicherweise oft angenommen, nur ein christlicher Erlösungsmythos, sondern ist in seinem archetypischen Grundmuster universell lesbar.

Einschub: Seit 10 Tagen nunmehr tobt der Krieg im Kosovo und ich muss gestehen, dass sich angesichts dieser Lage in meine Arbeit der Zweifel, wenn nicht sogar ein Gefühl der Lächerlichkeit einschleicht. Doch nach längerer Zeit des Nachdenkens kommt man zu der Erkenntnis, das schlichtweg jeder humanistische Denkansatz der dem Prinzip Hoffnung folgt, sich durch die normative Wirklichkeit einer Verletzbarkeit aussetzt, die es denen, die sich bereits auf der zynischen Seite befinden, immer leicht macht über eine solche Haltung nur müde zu lächeln. Deshalb, lasst uns zurücklächelnd fortfahren in der Arbeit:

Projekt 2000 - die Pilgerschaft in mir

 Einleitung 

Der bevorstehende Jahrtausendwechsel ist Ausgangspunkt für Spekulationen und Prognosen jeglicher Art über das, was die Zukunft bringen soll. Aus diesem Grund fällt den Völkern die Verantwortung, aber eben auch die Chance zu, diesen Moment der allgemeinen Erwartungshaltung zu nutzen, ihrem Friedenswillen Ausdruck zu verleihen. Damit wäre der Menschheit ein positiver Bewusstseinsimpuls mit auf den Weg ins neue Jahrtausend gegeben.

Ein Kunstwerk ist die geeignete Form, diesem Geist an der Schwelle zum neuen Millennium ein Denkmal zu setzen. Aus diesem Grunde wollen wir Erde aus allen Ländern der Welt zusammentragen und hernach einen Teil der gesammelten Erde von Silvester auf Neujahr 2001 in einem gemeinschaftlichen Akt der Hoffnung zusammenführen: dies ist die Erdskulptur der Hoffnung und der Vision.

Bis die Menschheit dieses Ziel erreicht hat, ist noch ein langer Weg zu gehen. Dieser Weg wird von einer Gruppe von Menschen vorweggenommen. Sie tragen die Vision auf einer 2000 km langen Wanderung in eine Höhle in Ungarn, wo sie dann in einem gralsähnlichen Steingefäß bewahrt wird.

Der körperliche Impuls der Wanderung setzt ein Zeichen dafür, dass Menschen sich für ihre Ziele im wahrsten Sinne des Wortes "in Bewegung setzen". Der Ausgangspunkt für diesen von der Menschheit noch zu gehenden Weg wird durch eine Skulptur symbolisiert, in der die verbliebenen Erden der Nationen noch getrennt aufgeführt werden - dies ist die Erdskulptur der Gegenwart.

Wir, die wir nebeneinander auf und von dieser Erde leben, können durch unser Bewusstsein auf die Bedingungen unseres Zusammenlebens einwirken. Das für die Verwirklichung der Vision nötige Umdenken erfordert von uns allen die Bereitschaft, sich, metaphorisch gesprochen, auf die Pilgerschaft in uns selbst zu begeben.

Dieses delphische Erkenne Dich Selbst, welches Grundvoraussetzung für den erhofften Erfolg des Aufklärungsgedankens ist, findet sich innerhalb des Kunstwerkes in einer mythologischen Gestalt wieder.

I. Das Projekt 

1. Formaler Ablauf

Die Zusammenführung von Erde Geplant ist es, aus allen Ländern der Erde jeweils einen Liter Erde zu sammeln, und jede dieser Portionen in zwei Hälften aufzuteilen. Die eine Hälfte Erde jedes einzelnen Landes wird in ein eigenes, gläsernes Gefäß umgefüllt, mit Name und Flagge der betreffenden Nation versehen. Diese Gefäße werden dann in alphabetischer Reihenfolge in einer Vitrine ausgestellt. Die anderen Hälften der Erde werden in einem feierlichen Akt in der Nacht zum 01.01. des Jahres 2001 um exakt 00.00 Uhr zusammengeführt und bilden eine homogene Masse. Diese wird nun, wie bereits oben erwähnt, auf einer Wanderung in eine Höhle in Ungarn gebracht.

 Die Wanderung

 In unserer heutigen Zeit, in der selbst die kleinsten Strecken motorisiert zurückgelegt werden, wird einer Gruppe von Menschen, die bereit ist für eine Vision 2000 km zu Fuß zurückzulegen, große Aufmerksamkeit zuteil. Eine solche außerordentliche Tat kann es leisten, den Menschen für das anbrechende Jahrtausend eine hoffnungsvoll-stimmende Metapher der Handlungsfähigkeit mit auf den Weg zu geben. Die Wanderstrecke führt durch Deutschland, Polen, Tschechien, Slowakei bis nach Ungarn. Die Wandergruppe setzt sich aus Menschen verschiedenster Herkunft zusammen.

Die Höhle

 Die Baradla-Domica-Höhle in Aggtelek, Ungarn, die im Dezember 1995 in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen wurde, ist, was ihre geologische Geschichte und Morphologie angeht, einzigartig auf der Welt. Sie erstreckt sich mit ihren weitauslaufenden Armen über eine Strecke von 25 km. Sie verfügt über eine kaum endende Anzahl von beeindruckenden "Sälen". Warum wird das gralsähnliche Steingefäß bzw. die Vision in einer Höhle aufbewahrt? - Sie unterstützt durch ihre natürliche Gewachsenheit den völkerverbindenden Aspekt des Kunstwerkes, da sie sowohl auf slowakischer als auch auf ungarischer Seite mehrere Eingänge hat. -Sie bietet dem Gefäß einen natürlichen Schutzraum. - Im Erleben der überwältigenden Schönheit der Höhle, im Moment der Ehrfurcht vor dem Werke der Natur, wird der Anblick der Vision im Betrachter die Erkenntnis der eigenen Verantwortung freisetzen.

Die Skulptur nach der absolvierten Wanderung

Mit der Baradla-Domica-Höhle in Aggtelek, Ungarn und dem Leopold-Hoesch-Museum in Düren, Deutschland, stehen dem Kunstwerk zwei Räume zur Verfügung, in denen die Erdskulpturen fortan der Öffentlichkeit zugänglich sein werden. An Attraktivität gewinnt die Skulptur nach der Wanderung vor allem dadurch, dass eine in Real-Zeit geschaltete Videoinstallation die zwei Punkte miteinander verbindet. Auf den Bildschirmen können sich die jeweiligen Besucher an den betreffenden Orten gegenseitig sehen und werden somit Bestandteil der Skulptur. Beein-druckende Landschaftsaufnahmen von der Wanderung werden der Installation im Leopold-Hoesch-Museum die angemessene Stimmung verleihen.

2. Das Projekt und seine Rezeptionsästhetik

 Das Projekt greift auf mythologische Bilder zurück, die in der menschlichen Psyche als Archetypen fortwährend präsent sind. Sie existieren in allen Kulturen und beschreiben menschliches Werden. Das Projekt speist seine Kraft aus drei im Grunde einfachen, aber eben archetypischen Bildern:

2.1.: Die Zusammenführung der Erden, die in der Seele darin ihre Entsprechung hat, dass die menschliche Psyche einen Ausgleich zwischen den ihr innewohnenden Aspekten anstrebt.

2.2.: Die Pilgerschaft, die in allen Kulturen als Symbol eines Initiationsvorgangs dient, und als Archetyp immer auch ein Bild für die individuelle als auch kollektive Entwicklung darstellt (Individuation und Geschichte).

2.3.: Die Aufbewahrung der Erde in einem Gefäß, welches wiederum durch die Höhle verborgen wird. Das Gefäß als eines der ältesten Kulturmerkmale hat numinosen Charakter und kommt als verborgene Kostbarkeit in allen Kulturen vor. Darüber hinaus ist es Ausdruck des Selbst, um welches das menschliche Dasein fragend kreist.

Durch die starke Anbindung an mythologische Bilder wird der Rezipient die Aktion spontan erfassen. Das Kunstwerk erhält zudem eine Strahlkraft, die den tieferen Schichten der menschlichen Seele entspringt.

II. Das Projekt und die Fragen der Zeit

Existenz im Spannungsfeld der Individualität und des Kollektivs Durch die voranschreitende Individualisierung betreten die heute lebenden Generationen einen nie geahnten Freiheitsraum. Damit einher geht jedoch auch zunehmend die Auflösung gesellschaftstruktureller Bindungen, was sowohl zu Problemen im zwischenmenschlichen Bereich, zwischen den Generationen als auch den Völkern führt. Das Projekt behandelt dieses bereits in der griechischen Mythologie vorkommende Spannungsfeld, und macht deutlich, dass die je eigene Individuation (die Pilgerschaft in mir) nur innerhalb des Kollektivs gedacht werden kann. 

Globalisierung 

Noch in keinem Zeitalter waren die verschiedenen Kulturen anderen kulturellen Einflüssen so schutzlos ausgesetzt wie in der heutigen Zeit. Auch hier gilt: Die Stärkung der jeweiligen kulturellen Identitäten führt zu einer stabilen Weltgemeinschaft. Hier deutet der wegen seines archetypischen Charakters universal verständliche Mythos ebenfalls auf die Selbstfindung im Rahmen einer grundsätzlichen Zusammengehörigkeit hin.

 Sozialer Zusammenhalt

Im sozialen Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft spielt der frei-schwebende Mythos neben dem Staatswesen und dem dogmatischen Mythos (Religion) eine ganz wesentliche Rolle. Durch seine Fähigkeit, sich dem Zeitgeist von seiner Form her anzugleichen, kann er es immer wieder leisten, den Menschen sozial zu integrieren. Durch die Beanspruchung des Mythos' als ältestem Erziehungsmodell kann der Bürger in das europäische Einigungswerk stärker integriert werden. Integration durch die Förderung des gemeinsamen kulturellen Erbes Der dem Projekt zugrunde liegende Parceval-Mythos ist die bekannteste und nach wie vor faszinierendste mythologische Konfiguration. Dieses gemeinsame geistig kulturelle Erbe kann es leisten, die heutigen Herausforderungen in einem metaphorischen Bild zu abstrahieren. Die Abstraktion bzw. Reduktion des Problems auf seine archetypische Struktur ist im Prozess des Verstehens eine wichtige Voraussetzung.

III. Weitere Merkmale des Projekts

Synthese verschiedener Gattungen Innerhalb der Skulptur werden auf bisher einzigartige Weise künstlerisches Schaffen, kulturelles Erbe und neue Technologien ineinander verwoben. Die Baradla-Domica-Höhle in Aggtelek, Ungarn, die sogar den Status des Welterbes (UNESCO) genießt, wird als Kulturstätte im Zusammenhang mit der Skulptur einem breiteren Publikum näher gebracht. Der Parceval-Mythos als immaterielles Erbe wird durch seine neue Gestalt aktualisiert und als gemeinsames Kulturerbe erschlossen. Die Videoinstallation, die es durch ihre Liveschaltung ermöglicht, dass die Menschen an den jeweiligen Orten über Grenzen hinweg miteinander kommunizieren können, macht die Menschen unmittelbar zum Teil der Skulptur.

Der symbolische Wert

Um die geistige Integration der Völker in der Gemeinschaft zu beschleunigen, sind kulturelle Großereignisse mit hohem symbolischen Wert unerlässlich. Zu prüfen sind die Symbole jedoch hinsichtlich ihrer Qualität und ihrer Langzeitwirkung. Durch die Reduzierung des Gralsmythos auf seine Archetypen, wird ein solches Symbol von allen Kulturräumen anerkannt werden, da es im kollektiven Gedächtnis aller Menschen tief verwurzelt ist.

IV. Zeitlicher Ablauf

  • 1999/2000 
- Zusammentragen der Erde Silvesternacht
  • 2000/01 
- feierliche Zusammenführung im großen Rahmen
  • Juni - August 2001
- Pilgerung von Düren bis zur Baradla-Domica-Höhle in Aggtelek, Ungarn
  • ab August 2001 
- Der Ursprungs- und der Zielort der Pilgerung bieten als Kunsträume fortan

  die Möglichkeit zur Rezeption des Kunstwerkes   

Jeder, der das Bedürfnis verspürt, bei der Wanderung teilzunehmen oder auch anderweitig das Projekt unterstützen will, kann sich an folgende Adresse wenden:

Tobias Kielinger

Emdener Str. 23

10551 Berlin

Tel: +49 30 39877510

Fax: +49 30 39877511

E-Mail: kielinger@kielinger.de


Fußnoten

1. Diese Fähigkeit des "totalen Blicks" hat natürlich jeder, der die Phänomene seiner Umwelt als das plastische Mate-rial ansieht, welches die Geschichte gestaltet. [zurück]

2. Diese Formel hat Mozart für sein eigenes kompositorisches Arbeiten entwickelt. Brief vom 31.Juli 1778 in Bauer7Deutsch, S.472 [zurück]

3. Barbara Kösters über Susanne Langers Bedeutungstheorie in Mythologica 2, Düsseldorfer Jahrbuch für interdisziplinäre Mythosforschung: In dieser Theorie spielt die Sensomotorik bei der Herausbildung des Mythos eine entscheidende Rolle. Die kognitive Wahrnehmung wird , durch ihre Einbettung in die Sensomotorik, relativiert. [zurück]

4. Nach Kolakowski hat allein der Mythos "die Kraft, die Gleichgültigkeit der Welt aufzuheben" (L. Kolakowski " die Gegen-wärtigkeit des Mythos" München 1973,104). [zurück]

5. Mythen teilen ja mit Sprachen zunächst die Eigenschaft, soziale Gebilde zu sein. Es ist ebenso widersinnig, sie als Privatver-anstaltung zu denken, wie die Idee von einer Privatsprache widersinnig ist"(Manfred Frank, der kommende Gott, Suhrkamp 1982, S.110). Ganz im Gegensatz zu M. Frank meine ich, daß die positive wie negative Wirkmächtigkeit des Mythos erst dann umfassend begriffen wird, wenn man ihm zugesteht, bereits im privaten Bereich angesiedelt zu sein. Schon die Redewendung "dies ist mir heilig" deutet darauf hin, das der Mythos nicht immer der kollektiven Zustimmung bedarf. [zurück]

6. Hans Blumenberg in: Arbeit am Mythos, Suhrkamp 1979 [zurück]

7. Der freischwebende Mythos beansprucht im Gegensatz zum dogmatischen Mythos nicht, eine im Raum-Zeit-Kontinuum tatsächlich passierte Geschichte zu erzählen. Dadurch steht er immer wieder von neuem jeder Generation als zeitgenössisch zu bearbeitendes Material zur Verfügung. [zurück]

8. Paracelsus (1493-1541) , Paracelsus vergleicht die Imagination, die Einbildung, mit einem Magneten, der durch seine anzie-hende Kraft doe Dinge der Außenwelt in den Menschen hineinzieht, um sie dort umzuformen. Ihre Tätigkeit wird daher im Bild des inneren Alchimisten, des Bildhauers oder des Schmiedes begriffen. Sie zu beherrschen sei entscheidend, denn Was der Mensch denkt, "ist er, und ein Ding auch wie er es denkt. Denkt er ein Feuer, so ist er ein Feuer" (Paracelsus) aus: Alchemie und Mystik von Alexander Roob. [zurück]

9. Karl Kerényi spricht in seinem Brief vom 7.2.1934 an Th. Mann von "der Rückkehr des europäischen Geistes zu den höchsten, den mythischen Realitäten". [zurück]


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